Der destruktive Hyperfokus
Datum: 27. März 2025
Wenn man sich näher mit dem Thema ADHS beschäftigt, begegnet man relativ rasch dem spannenden Stichwort Hyperfokus. Ich schreibe heute darüber, nachdem mir bewusst geworden ist, dass der zwar häufig als Superkraft angepriesen wird und grundsätzlich auch von großem Nutzen sein kann, aber wie viele Dinge des Lebens hat auch dies seine Schattenseiten – und wenn es mies läuft, hat das Ego daran einen riesen Spaß.
Was ist ein Hyperfokus, was bringt das?
Naja, zunächst sollte man wissen, dass ADHSler oft große Probleme haben, gedanklich bei der Sache zu bleiben – zumindest, wenn es gerade um etwas geht, was nicht von besonderem Interesse ist.
Das Gegenteil passiert nicht so häufig und obwohl das meiner Meinung nach einer der Vorzüge von ADHS ist, ist es schwierig, das bewusst herbeizuführen und zu nutzen: der Hyperfokus. Das bedeutet für mich, dass mich ein Gedankenprozess und/oder eine Handlung so sehr in seinen Bann zieht, dass es für mich unglaublich schwer ist, mich davon zu lösen. Wie andere ADHSler auch berichten, führt das nicht selten dazu, dass man sogar vergisst, zu essen, zu trinken oder auf’s Klo zu gehen.
Wenn es gut läuft, passiert das bei etwas Produktivem und dann ist der Hyperfokus wirklich wie eine Superkraft: vielleicht hilft es mir bei der Arbeit oder ich räume zumindest meine Wohnung auf. Dann habe ich am Ende wirklich etwas geschafft. Früher ist mir das auch gerne beim Lesen eines guten Fantasyromans passiert, wenn ich beim Zeichnen in einen Flow kam, oder auch beim Zocken. Wenn ich Zeit habe und nichts Wichtiges deswegen liegen bleibt, ist das im Grunde auch erfreulich, denn dann habe ich zumindest effektiv meine Freizeit genossen.

Was kann daran noch destruktiver sein, als abends plötzlich „aufzuwachen“ und zu merken, dass man das Frühstück vergessen hat?
Es gibt leider auch die richtig ungesunde Variante von Hyperfokus, und die kommt unter anderem dann vor, wenn ich mich von einer Gedankenspirale in seinen Bann ziehen lasse.
Wie mir heute bewusst wurde, habe ich das beste Beispiel für destruktiven Hyperfokus erstmals im letzten Sommer hingelegt und seitdem ist es immer mal wieder aufgetreten.
Und zwar passiert in der Regel Folgendes: mein Gehirn holt die Gedanken an mein Dual hoch, darüber, was zuletzt zwischen uns passiert ist, was ich dabei empfunden habe. Ich reflektiere erneut darüber, was seither mit mir (in meinem Inneren) passiert ist, und wie ich die Situation aus der aktuellen Gefühlslage heraus betrachte. Dazu kommt, dass wir über so viele Dinge niemals gesprochen haben – und dass auch der Einstieg in die akute Kontaktflaute wieder kurz und brutal ausfiel.
Darauf folgt dann der Impuls, mich über sein Schweigen hinweg zu setzen und ihm zu sagen, was mich bewegt. Und was ich dann oft tue ist, den Mist einfach aufzuschreiben.
Man verstehe mich nicht falsch, in 99% der Fälle melde ich mich nicht wirklich bei ihm. Aber das Schreiben ist für mich eine Art, meine inneren Prozesse zu verarbeiten und mein Gehirn von Ballast zu befreien. Und allein die Vorstellung, mich zu öffnen und ihm zu sagen, was mich bewegt, ist leider manchmal schon genug, um mich total darin zu verlieren.
Anfangs habe ich mir die Nächte damit um die Ohren geschlagen, obwohl ich wusste, dass ich am nächsten Morgen aufstehen und auf der Arbeit funktionieren muss – es war mir egal. Alles, was in diesen Momenten zählt, ist, dass ich beim Thema bleibe. Ich versuche mich dabei möglichst wertfrei auszudrücken und achte extrem auf die Formulierungen. Denn einerseits versuche ich, eine neutrale Sichtweise zu bewahren, Worte zu finden, die aus meiner Seele kommen, und mir während des Schreibens bewusst zu machen, wenn da etwas aus meinem verletzten Ego hochkommt. Andererseits komme ich im Laufe dieses Prozesses irgendwann nicht mehr an der Frage vorbei, ob ich das, was ich da geschrieben habe, nicht vielleicht doch mal absenden sollte.
Heute war es wieder soweit, und ich habe mindestens 9 Stunden (!!!!!!11elf) damit zugebracht, eine hypothetische Nachricht zu schreiben. Und sie wieder und wieder umzuschreiben. Hier etwas ergänzen, da etwas ergänzen. Dann bemerke ich, dass ich eine unzumutbare Wall of Text produziert habe, und nicht selten führt das dazu, dass ich einfach noch mal von vorne beginne – ohne, dass das Ergebnis nennenswert abweicht.
Natürlich habe ich es heute wieder nicht abgeschickt, denn er hat kürzlich erst nochmal deutlich gemacht, dass er den Kontakt gerade nicht wiederherstellen will. Mein Gehirn redet sich gern ein, dass ich ihn nicht unter Druck setzen möchte. Im Endeffekt frisst mein Ego aber auch die Angst: nach allem, was passiert ist, kann ich mich zwar fragen, was ich überhaupt noch zu verlieren habe, aber die Sorge, dass die Wahrheit auszusprechen ihn nur noch weiter in den Rückzug treibt, ist allgegenwärtig.
Was hilft bei destruktivem Hyperfokus?
Das ist eine großartige Frage, über die ich selbst immer wieder nachdenke. Manchmal fällt mir sogar auf, was ich da tue, ich frage mich warum ich das mache – und dann mache ich trotzdem weiter. Das Gehirn ist ein interessantes Gerät…
Die beste Empfehlung, die ich habe, ist, achtsam zu sein – ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich einmal bemerkt habe, welche Trigger auf unerwünschte Weise in den Hyperfokus führen, dass ich mich dann auch manchmal davon abhalten kann.
Wenn ich erstmal drin hänge, gibt es nicht viel, was ich da machen kann – bevor ich es merke, vergehen gerne Stunden und mich bewusst daraus zu befreien gelingt mir auch nicht zwangsläufig. Perfekt ist es, wenn mich jemand dabei stört. Im Zweifelsfall reicht da auch ein Anruf von Mama, oder der Amazon-Lieferant an der Haustür – aber um eine Chance zu haben, dass es jemandem auffällt, der dann möglicherweise absichtlich eingreifen kann, wäre es natürlich optimal, nicht alleine zu Hause zu sein.
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